Der Lackmustest moderner Gesellschaften

Diversität im transatlantischen Kontext

An der Frage, wie mit Einwanderern und Minderheiten umgegangen werden soll, scheiden sich die Geister, denn Diversität berührt existenzielle Grundfragen moderner Massengesellschaften. Wer sich an wen anpassen muss und wie Gemeinsames entsteht, ist allenthalben umstritten. Eine uneinheitliche Gesellschaft verlangt den Einzelnen ein hohes Maß an Offenheit ab sowie die Fähigkeit, sich auf Neues einzustellen und die Herausforderung, alte Gewissheiten hinter sich zu lassen. Kein Wunder, das dieser neuralgische Punkt im Mittelpunkt so vieler Debatten steht: ein politisches Minenfeld und zugleich Gradmesser für die Dehnbarkeit der sozialen Fasern moderner Staaten.


Diskriminierung als Betätigungsfeld der Angsthasen

Fehlwahrnehmungen und Missverständnisse prägen oft das Bild. Das hängt damit zusammen, dass die Ausgrenzung religiöser und ethnischer Minderheiten oft mehr mit der Gemütslage der Mehrheit als mit echten sozialen oder kulturellen Konflikten zu tun hat. Diskriminierung ist das Betätigungsfeld der Angsthasen, denn an Minoritäten kann man sich einigermaßen gefahrlos abarbeiten. Aber werden individuelle Vorurteile breitenwirksam, dann droht Gefahr für die Gesellschaft als Ganze.

Wenn Unterschiede von Hautfarbe, Religion und Herkunft erst als allgemein verbindliche Markierungen der Differenz akzeptiert sind, dann entfaltet sich ein willkürliches System ebenso unvernünftiger wie vereinfachender Erklärungsmuster. Es entsteht die Illusion, man könne plötzlich alle zentralen Lebensfragen der Moderne durch das Prisma der Diversität beantworten: "Wer sind wir?", "Woher kommen wir?". Und die wichtigste aller Fragen: "Wer ist schuld?". Von der Politik befeuert, ist es oft nur ein kleiner Schritt vom Vorurteil zur Handgreiflichkeit.

 


Die USA und Westeuropa sind doch grundverschieden

Zwischen demokratischen Gesellschaften existieren deutliche Unterschiede im Umgang mit Diversität, das gilt besonders für den transatlantischen Raum. Die USA und Westeuropa sehen sich in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht recht ähnlich – und sind doch grundverschieden. In Amerika entstand seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Gemeinwesen, in dem Menschen aus vielen Weltregionen miteinander in Berührung kamen und in rasch expandierenden Städten der Kulturindustrie von Film und Musik sowie entfesselter Produktivität eines vitalen Landes ausgesetzt waren. Die Orientierung in der US-Gesellschaft, die keine Vorbilder kennt, verlangte eingeborenen wie zugewanderten Amerikanern gleichviel ab. Das auf jedem Vierteldollar verewigte Ideal des "Einen aus den Vielen" basiert auf der fortwährenden Einhegung und Neutralisierung zerstörerischer Herkunftsmythen.


Diversität als Stärke

Konflikte gab es ständig, aber auch die Einsicht, dass ethnische und kulturelle Differenz eine potenzielle Quelle der Stärke sind. Von diesen Erfahrungen haben noch die Aktivisten der Civil Rights Epoche entscheidend gezehrt. Trotz (und wegen) der Auseinandersetzungen um Bürgerrechte für schwarze Amerikaner durchzieht die Geschichte des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten eine emanzipatorische Grundstimmung.

"Die Härte der Rassenkonflikte der Sechzigerjahre verankerte im amerikanischen Alltagsbewusstsein, dass es sinnlos und gefährlich ist, Bürgerrechte, Teilhabe am öffentlichen Leben und Karrierechancen allein von Hautfarbe und Herkunft abhängig zu machen."

 

 


Kosmopolitanes Gemeinwesen wider Willen

Diese gesellschaftsgeschichtliche Besonderheit ist nicht nur, wie oft daher gesagt, in der amerikanischen Einwanderungstradition begründet. Zwar kamen um die vorletzte Jahrhundertwende innerhalb von nur vier Jahrzehnten über 24 Millionen Menschen ins Land – rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Das Resultat war ein kosmopolitanes Gemeinwesen wider Willen.

Der unaufgeregte Umgang mit dem Fremden hängt aber vor allem damit zusammen, dass diese Gesellschaft sich immerfort über sich selbst verständigen musste. Amerika ist interpretationsbedürftig, denn die Bedeutung der Formulierung „wir Amerikaner" verändert sich mit jedem Jahrzehnt. (Seit 1992 verkauft sich mexikanische Salsa besser als Ketchup.) Dieser Erfahrungskreis kultureller Vielfalt hat ein Gemeinwesen ohnegleichen geschaffen – man kann die USA als nicht-nationale Nation beschreiben. Pluralismus war nie politisches Programm, sondern Notwendigkeit.


Rhetorisches Bermudadreieck der Angst

Eine Mehrheit der Amerikaner hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren darauf verständigt, die Vorstellung zurückzuweisen, dass Herkunft Schicksal sei. Doch steht diese aufklärerische Erbschaft seit 2016 unter hohem Druck. Mit einem rhetorischen Bermudadreieck der Angst (Einwanderung, Terrorismus, Globalisierung) ist es Donald Trump gelungen, gebändigt geglaubte weiße Ressentiments in offenen Hass auf die amerikanische Tradition zu überführen.

Entgegen den eigenen Bekundungen handelt es sich bei weiten Teilen der republikanischen Stammwählerschaft um virtuelle Emigranten: Sie sind aus den institutionellen Traditionen des modernen Amerika sowie dem moralischen Inventar – gespeist aus dem Kampf um Bürgerrechte und der US-Beteiligung an zwei europäischen Weltkriegen – ausgewandert. Man fremdelt mit dem modernen Amerika und seinen Pluralismusgeboten und lässt Demokratie, Aufklärung und Wissenschaft hinter sich. Viele Konservative sehen sich als Opfer diffuser Umstände und befinden sich auf einem Weg, an dessen Ende kein Ankunftsort liegt, sondern nur politische Heimatlosigkeit in der Wut auf die eigene Gesellschaft.


Wie sollen unsere Gesellschaften in der Zukunft aussehen?

Die in der an Diskriminierung nicht arme amerikanische Geschichte erlebte 2018 ein absolutes Novum, als das Weiße Haus und willige Helfer im Heimatschutzministerium die Trennung minderjähriger Kinder von ihren Eltern als politisch gewollte Abschreckungsmaßnahme an der US-mexikanischen Grenze einsetzte: Grausamkeit als Wiederwahlprogramm. Weder aus republikanischen Mittelschichten noch protestantischen Großkirchen oder von konservativen Wirtschaftskapitänen kam nennenswerter Widerstand. Im Gegenteil. Ein Großteil der eingeschriebenen Republikaner hat sich in einen Wahn hineingesteigert: Mehr als die Hälfte erklärt, die traditionelle amerikanische Lebensweise verschwände so schnell, dass vielleicht Gewalt angewendet werden müsse, um sie zu schützen.

Wie so oft nehmen die USA Entwicklungen vorweg. Die ständig unter der Worthülse der Polarisierung simplifizierte Gesellschaftskrise umreißt sehr grundsätzliche Fragen: Wie sollen unsere Gesellschaften in Zukunft aussehen und wie sollen sie sich arrangieren? Nach welchen Kriterien wird über Zugehörigkeit entschieden und wie wird mit demografischen Problemen und steigender Mobilität umgegangen? In der Summe handelt es sich um nicht weniger als den Lackmustest moderner Demokratien.


Über Michael Werz

Michael Werz ist Senior Fellow am Center for American Progress, Washington DC, und war lange im Vorstand der Atlantik-Brücke. Er ist Gastdozent am Center for German and European Studies an der Edmund A. Walsh School of Foreign Service der Universität von Georgetown in Washington und Mitglied im Council on Foreign Relations. Werz verfasste Forschungsbeiträge über Anti-Amerikanismus, ethnische Gruppen in Europa und den Vereinigten Staaten sowie den gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Antisemitismus.

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