Magic, mystery or matrix?

Ein Gespräch mit dem Stringtheoretiker Edward Witten

Die Ideen des US-Physikers Edward Witten hatten in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der theoretischen Physik.

Das Interview führte Ralf Krauter, Physiker und Wissenschaftsjournalist.

Edward Witten © OFC LLC

Sie wurden 1951 in Baltimore geboren, im US-Bundesstaat Maryland. Ihr Vater war theoretischer Physiker und forschte zu Gravitation und allgemeiner Relativitätstheorie. Wie haben seine Interessen Ihre Berufswahl beeinflusst?

Ich wurde schon früh mit Mathematik und Physik konfrontiert und habe mich bereits als kleiner Junge für Astronomie begeistert. Das waren die Tage des ‚Space Race‘ zwischen den USA und der Sowjetunion. Jeder interessierte sich damals für den Weltraum, aber ich hatte eine besondere Leidenschaft dafür. Und ich dachte, wenn ich groß bin, möchte ich Astronom werden. Ich weiß noch, dass ich Angst davor hatte, dass Astronomen im Weltraum leben und arbeiten müssten, was sich gefährlich anhörte. Ich habe jedoch festgestellt, dass 60 Jahre später Weltraumteleskope zwar sehr wichtig sind, aber die Astronomen, die sie betreiben, normalerweise auf der Erde leben.

Im Alter von 11 Jahren lernte ich die Infinitesimalrechnung kennen und interessierte mich sehr für Mathematik. Aber ehrlich gesagt verlief mein Leben später eine Zeit lang im Zickzack und ich war mir nicht sicher, was ich machen wollte. Erst im Alter von 22 Jahren entschied ich mich wirklich für die theoretische Physik. Mein Vater ist übrigens immer noch theoretischer Physiker. Er ist 102 Jahre alt und erfreut sich für sein Alter sehr guter Gesundheit.


Nach der Schule haben Sie zunächst Geschichte und Sprachwissenschaften studiert, dann Artikel für Zeitungen geschrieben, schließlich ein Studium der Wirtschaftswissenschaften begonnen und wieder abgebrochen. Was gab den Ausschlag, sich dann an der Universität Princeton für Mathematik und Physik einzuschreiben?

Irgendwann habe ich gemerkt, dass mein Talent in einigen dieser anderen Bereiche begrenzt ist und dass ich in Mathe und Physik besser bin. Ich würde anderen Leuten empfehlen, weniger Zickzacklinien in ihrem Leben zu haben als ich es tat.

Edward Witten auf dem Campus des "Institute for Advanced Study" © Dan Komoda, Institute for Advanced Study

Sie haben Ihre Doktorarbeit 1976 in Princeton abgeschlossen. Ihr Doktorvater David Gross hatte drei Jahre zuvor entdeckt, wie sich die Wechselwirkung von Quarks besser beschreiben lässt. Dafür bekam er im Jahr 2004 den Physik-Nobelpreis. Wie war es damals, einen so renommierten Wissenschaftler als Mentor zu haben?

Es war wirklich sehr aufregend, mit David Gross zu arbeiten, und auch das Umfeld der Graduiertenschule in Princeton war toll. Damals passierten viele spannende Dinge. David‘s Entdeckung der so genannten asymptotischen Freiheit war neu, und viele Fragen noch offen - einschließlich des Geheimnisses, wie Quarks in den Protonen und Neutronen eingeschlossen werden. Das hat mich damals brennend interessiert. Ich befasste mich mehrere Jahre lang mit diesem Problem und musste irgendwann akzeptieren, dass ich besser an einfacheren Dingen arbeiten sollte. Wir sollten nur Aufgaben angehen, die wir auch lösen können. Und die Erklärung des Quarkeinschlusses gehörte damals nicht zu dieser Kategorie. Einige Aspekte wurden in jenen Jahren verstanden. Aber die Art von quantitativem Verständnis, von der ich träumte, haben wir bis heute nicht.


Interessierten Sie sich schon während Ihrer Dissertation für die Vereinheitlichung physikalischer Theorien?

Die großen vereinheitlichten Theorien wurden in jenen Jahren entwickelt, als ich promovierte. Aber soweit ich mich erinnern kann, hatten sie in Princeton damals noch keinen großen Einfluss. Aber dann habe ich 1976 meinen Abschluss gemacht und bin an die Universität Harvard gegangen. Und dort herrschte große Aufregung über die große Vereinheitlichung, einige der wichtigsten frühen Arbeiten dazu waren von Kollegen in Harvard durchgeführt worden.


Sie sind einer der führenden Stringtheoretiker und gelten als der Vater der M-Theorie. Können Sie für Laien kurz erklären, worum es dabei geht?

Die Physik des 20. Jahrhunderts hatte zwei wesentliche Errungenschaften: Die Quantentheorie und Einsteins Gravitationstheorie. Die Quantentheorie beschreibt Atome, Moleküle und subatomare Teilchen. Einsteins Theorie der Schwerkraft beschreibt Sterne, Galaxien und das gesamte Universum. Die Quantentheorie ist heute in ihrer umfassendsten Form im Standardmodell der Teilchenphysik enthalten, das um 1973 fertig gestellt wurde. Das war genau zu der Zeit, als ich mein Studium begann.

Ein großes Rätsel der Physik war, dass die Quantentheorie und Einsteins Gravitationstheorie unvereinbar zu sein scheinen. Einsteins hochgradig nichtlineare Mathematik, die er in seiner Gravitationstheorie verwendet, ist mit den Anforderungen der Quantentheorie unvereinbar. Das wurde bereits in den 1930er Jahren erkannt, aber damals war das Verständnis der Quantentheorie so begrenzt, dass man dachte, das Problem würde vielleicht verschwinden, wenn man die Quantentheorie besser verstehen würde.

In den 1970er Jahren, mit der Entstehung des Standardmodells, war die Quantentheorie jedoch so gut verstanden, dass klar wurde: Die Einbeziehung der Schwerkraft stellt ein ernsthaftes Problem dar. Es handelt sich um ein großes Problem, von dem niemand so recht wusste, wie es zu lösen war. Aber Physiker, die versuchten zu verstehen, was die Protonen und Neutronen in einem Atomkern zusammenhält, entdeckten dabei die Stringtheorie. Und diese ermöglicht uns nicht nur, die Schwerkraft in die Quantentheorie einzubeziehen, sondern sie zwingt uns förmlich dazu. Wenn man vom modernen Rahmen der Quantentheorie zur Stringtheorie übergeht, wird einem die Schwerkraft regelrecht aufgezwungen. Diese Erkenntnis war der große Fortschritt der 1970er und 80er Jahre.

Edward Witten bei einem Workshop © Andrea Kane, Institute for Advanced Study

Mitte der 1980er Jahre war dann klar: Man kann in diesem Rahmen eine Theorie aufstellen, die die Schwerkraft und die anderen fundamentalen Naturkräfte einschließt. Etwas störend war allerdings, dass es damals fünf mögliche Versionen der Stringtheorie gab. Wenn eine von ihnen unsere Welt beschreibt, wer lebt dann in den anderen vier Welten? In den 1990er Jahren gab es dann zwei große Fortschritte. Der erste bestand darin, zu verstehen, dass die fünf alternativen Versionen der Stringtheorie verschiedene Grenzfälle einer umfassenden Theorie sind. Und diese große vereinheitlichte Theorie bezeichnen wir salopp als M-Theorie.


Bei einer Konferenz im Jahr 1995 machten Sie einen viel beachteten Vorschlag, wie man die fünf alternativen Stringtheorien vereinen könnte. War das die Geburtsstunde der M-Theorie?

Die Geschichte wird manchmal so erzählt, aber ich möchte ein bescheideneres Porträt malen. Damals stand eine Reihe von Ideen im Raum, die ich und andere entwickelt hatten und die man in eine bestimmte Richtung interpretieren konnte. Ich habe die unterschiedlichen Ansätze auf dieser Konferenz zusammengeführt. Und ich habe das wohl überzeugender getan als andere vor mir. Ich bin stolz auf den Beitrag, den ich leisten konnte. Aber ich bin hin- und hergerissen zwischen der Behauptung, dass die M-Theorie damals bereits bekannt war, und der Behauptung, dass sie noch nicht erfunden wurde. Beide Standpunkte sind vertretbar, je nachdem, welche Maßstäbe man anlegt.


Sie haben 1998 einen Fachartikel mit dem Titel „Magic, Mystery and Matrix“ geschrieben und lieferten damit drei Optionen für die Bedeutung des Buchstabens M. Er könnte aber auch für Membran stehen. Wofür steht das M wirklich?

Ich hatte nicht die Absicht, hier ein Geheimnis zu schaffen, aber ich glaube, ungewollt ist es dann doch passiert. Einige der Pioniere auf dem Gebiet glaubten damals, die neue Theorie müsse eine Membrantheorie sein. Die Theorie hat tatsächlich Membranen, aber ich dachte: Die Hoffnungen, die Theorie aus Membranen zu bauen, sind wahrscheinlich übertrieben. Ich wollte aber auch keinen Namen verwenden, der meinen Kollegen widerspricht. Also habe ich das M von Membran beibehalten. Und die Philosophie war, dass weitere Fortschritte zeigen würden, ob die Theorie tatsächlich als Membrantheorie verstanden werden könnte.

Da ich diesbezüglich skeptisch war, bot ich alternative Interpretationen an. Ich sagte also immer: Magie, Mysterium oder Membran. Aber dann entdeckten ein paar Jahre später einige Kollegen zufällig, dass die Membranen aus Matrizen abgeleitet werden können. Und zufällig beginnt auch das Wort Matrix mit M. Eine Zeit lang sagte ich also Magie, Mysterium oder Matrix.


Neben ihren Beiträgen zur theoretischen Physik haben Sie auch der Mathematik wegweisende Impulse gegeben. Sie haben Konzepte aus der Physik auf die Mathematik übertragen und Mathematikern so geholfen, Probleme besser zu verstehen, mit denen sie zu tun hatten. Für diese Beiträge haben Sie 1990 die Fields-Medaille erhalten, die als Nobelpreis für Mathematiker gilt. In welcher der beiden Disziplinen - Physik oder Mathematik - fühlen Sie sich mehr zu Hause?

Edward Witten bei einem Vortrag © Andrea Kane, Institute for Advanced Study

Nun, es muss die Physik sein. Denn ich habe die Ausbildung eines Physikers, aber nicht wirklich die eines Mathematikers. Ich bin in der Lage, einige Beiträge zur Mathematik zu machen, weil sich bereits zu jener Zeit, als Isaac Newton die Infinitesimalrechnung erfand, um die Bewegung der Planeten zu beschreiben, herausstellte: Viele wichtige mathematische und physikalische Ideen haben gemeinsame Wurzeln.

Die Quantenfeldtheorie ist mathematisch sehr schwer und die Stringtheorie noch schwieriger zu verstehen. Aber beide enthalten eine Menge mathematischer Geheimnisse. Und so konnte ich als Quantenfeldtheoretiker oder Stringtheoretiker manchmal Zusammenhänge erkennen, die für Mathematiker nicht so leicht zu finden sind.


Haben Stringtheorie und M-Theorie uns dem Verständnis der Natur des Kosmos in den vergangenen 50 Jahren nähergebracht? Haben wir ein klares Bild, wie das Universum funktioniert und woraus es besteht?

Alles verstehen wir sicher noch nicht, aber wir haben wichtige Fortschritte gemacht. Einer der Gründe, warum ich denke, dass wir wahrscheinlich auf dem richtigen Weg sind, lautet: Die Fortschritte in der Stringtheorie und der M-Theorie haben uns oft auch in anderen Disziplinen neue Erkenntnisse beschert. Und ich halte es für unwahrscheinlich, dass Physiker zufällig eine Theorie entdecken, die eine so reiche Quelle fruchtbarer Ideen über Dinge ist, die in anderen Bereichen definitiv wichtig sind. Sollten wir nicht auf dem richtigen Weg sein, wären all diese Entdeckungen großer Zufall. Ich persönlich bin deshalb der Meinung: Es müsste schon eine Art kosmischer Verschwörung am Werk sein, wenn sich die Stringtheorie als Irrweg erweisen sollte. Aber hundert Prozent sicher kann man sich im Leben nie sein.


Es gibt eine wachsende Zahl von Kritikern, die sich beschweren, die Stringtheorie hätte uns nicht wirklich weitergebracht. Weil wir immer noch keine Ahnung haben, ob sie korrekt ist und Experimente keine Hinweise darauf geben. Inwieweit ist diese Kritik aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?

Ehrlich gesagt, halte ich davon nicht viel. Wenn Kritiker der Stringtheorie interessante Ideen formuliert haben, wurden diese in der Regel aufgegriffen und in die Stringtheorie integriert. Die Twistor-Theorie, die Thermodynamik Schwarzer Löcher und die nicht-kommutative Geometrie sind drei Beispiele, wo Ideen, die zunächst als Alternativen angesehen wurden, in der Praxis Teil der Stringtheorie wurden.


In einem Interview, 1999 im Wissenschaftsmagazin Spektrum der Wissenschaft, sagten Sie: Der Teilchenbeschleuniger LHC am CERN in Genf ist der wahrscheinlichste Ort, um supersymmetrische Teilchen zu entdecken. Deren Existenz ist eine zentrale Vorhersage von Stringtheorie und M-Theorie. Über 20 Jahre später wurden diese Partikel immer noch nicht gefunden. Wie schmerzlich ist dieser Mangel an direkten Beweisen?

Die Ergebnisse sind enttäuschend – egal, ob man durch die Stringtheorie motiviert ist oder nicht. Es gibt ein großes Rätsel, das sich aus den LHC-Experimenten und früheren Experimenten ergeben hat. Das Higgs-Teilchen und die anderen Elementarteilchen haben viel kleinere Massen als die Massenskala, die durch die Gravitation festgelegt ist. Das ist ein unglaublich winziger Faktor von etwa zehn hoch minus sechzehn. Aber nach den Naturgesetzen, wie wir sie kennen, sieht das wie ein Zufall aus.

Meine Generation von Physikern wuchs mit der Erwartung auf, dass wir, wenn wir die Energie erreichen, bei der wir die Frage direkt untersuchen können, erfahren könnten, warum diese Zahl so klein ist. Inzwischen haben wir die relevanten Energien erreicht - aber eine Lösung des Rätsels ist nicht in Sicht. 

Und in der Zwischenzeit wurde ein zweites ähnliches Rätsel entdeckt, das mit der beschleunigten Expansion des Kosmos zu tun hat. Einsteins kosmologische Konstante, die Energie des Vakuums, ist so winzig, dass meine Generation von Physikern mit der Annahme aufgewachsen ist, sie sei aus irgendeinem unbekannten Grund sicher gleich Null. Aber die Kosmologen scheinen entdeckt zu haben, dass sie leicht positiv ist, nicht ganz Null. Es gibt also zwei ziemlich ähnliche Rätsel, eines aus der Kosmologie und eines aus dem LHC und anderen Teilchenphysikexperimenten. Diese beiden Rätsel verändern wahrscheinlich unser Verständnis des Universums, aber wir verstehen noch nicht genau wie.


Der Hamburger Preis für Theoretische Physik ist mit der Verpflichtung verbunden, Zeit in Hamburg zu verbringen, um sich dort mit Forscherinnen und Forschern und Studierenden auszutauschen. Freuen Sie sich darauf?

Natürlich. Ich freue mich immer auf den Austausch mit Kollegen. Ich war schon einige Male bei DESY in Hamburg und es gibt ein paar Leute, mit denen ich mich gerne wieder unterhalten würde.

Edward Witten mit Kollegen © Andrea Kane, Institute for Advanced Study

Wenn Ihre Gastgeber sich perfekt auf Ihren Aufenthalt vorbereiten wollen - was sollten sie tun? Ich habe gelesen: Ein Tennisplatz wäre willkommen?

Ich spiele in der Tat ein bisschen Tennis. Bei meinem nächsten Besuch im November anlässlich des Symposiums werde ich wohl keine Zeit dafür haben, aber ich schätze, ich werde später zu einem etwas entspannteren Besuch zurückkehren. Ich bin allerdings kein wirklich guter Tennisspieler. Ich spiele nur gern, im Idealfall zweimal pro Woche, aber manchmal fehlt mir die Zeit dafür.

Sind Sie ein sportlicher Spieler und laufen viel? Oder sind Sie eher smart und versuchen, in der Mitte des Platzes zu bleiben?

Meine Fähigkeiten sind begrenzt, also muss ich das durch Laufen kompensieren. Ich fürchte also, dass ich sehr arbeitsintensiv spiele.


Welche anderen Freizeitaktivitäten schätzen Sie?

Vor ein paar Jahren fing ich an, Klavier zu spielen. Offensichtlich habe ich viel zu spät im Leben begonnen, um jemals sehr gut zu werden. Aber es macht Spaß, es zu versuchen.


Sie sind mit der Italienerin Chiara Nappi verheiratet, einer emeritierten Physik-Professorin der Universität Princeton. Wie haben Sie sich kennengelernt?

Wir waren noch Studenten und haben uns in Les Houches in den französischen Alpen kennengelernt, in der Nähe von Chamonix. Das war 1975 bei einer Physik-Sommerschule.

Edward Witten und seine Frau Chiara Nappi © privat

Sie haben gemeinsam drei Kinder. Teilt eines davon Ihre Leidenschaft für Quantenfelder, Quantengravitation und Stringtheorie?

Sie sind alle in wissenschaftlichen oder technischen Berufen tätig, aber niemand ist Physiker geworden.

Bedauern Sie das?

Nein, Kinder sollten ihren eigenen Weg finden.


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